Am Sonntag ist Europawahl. Wir dürfen abstimmen über 35 Parteien, deren Wahlprogramme sich innerhalb, aber zum teil leider auch weit außerhalb des demokratischen Spektrums bewegen. Tausende Kandidat*innen treten an, um Politik für Menschen in 27 verschiedenen Staaten zu machen. Ein Parlament in dem letztendlich etwas mehr als 700 Abgeordnete, als Interessensvertretung für gut 450 Millionen Bürger*innen einstehen.
Keine einfache Antwort, auf auch nur eine einzige Frage.
Wer sich allein diese Zahlen einen Moment lang durch den Kopf gehen lässt, muss zu dem Schluss kommen, dass es auf keine Frage, die sich im parlamentarischen Betrieb der Europäischen Union stellt, jemals eine einfach Antwort geben kann. Wo so viele unterschiedliche Erwahrungen, kulturelle Prägungen, Perspektiven und Meinungen aufeinander treffen, bedeutet Konsens zwangsläufig auch Kompromiss.
Und so ist das auch bei der Wahl selbst. Eine Partei zu finden, die zwangsläufig alle meine Erwartungen und politischen Forderungen erfüllt, ist unmöglich. Ich bin nur einer 450 Millionen Bürger*innen und keine Partei kann daher ausschließlich meine Forderungen erfüllen. Und trotzdem ist meine Stimme wichtig, weil sie – gemeinsam mit vielen anderen Stimmen – der Zukunft eine bestimmt Richtung geben kann.
Utopien und Realitäten.
Utopien sind wichtig. Ohne Utopien und Träume gäbe es keine Hoffnung. Und ohne Hoffnung gäbe es keine Veränderung. „Ich hab geträumt von einem Land, in dem für immer Frühling ist…!“ Ja. Definitiv. Ich wünsche mir genau das. Eine Welte in der Gerechtigkeit herrscht. Echte Gerechtigkeit. In der es keine Rolle spielt, wer ich bin, woher ich komme, wen ich liebe und an was auch immer ich glaube. Und es gibt Tage, an denen ich daran verzweifle, dass es so viele Menschen gibt, die offensichtlich genau das nicht wollen.
Und damit wären wir dann bei den Realitäten. Wenn wir uns auch in der Zukunft noch Utopien leisten wollen, dann müssen wir das Recht darauf, heute verteidigen. Auf den meisten Plakaten, die dieser Tage an den Straßen stehen, ist ein Wort beinahe inflationär zu lesen: Freiheit. Nicht alle Parteien verstehen unter Freiheit das gleiche. Und viele Parteien wollen diese Freiheit auch nur für bestimmte Gruppen. Woran man einmal mehr sehen kann, wie komplex unsere Gesellschaft eigentlich ist. Nicht mal bei der Deutung eines so einfachen Wortes wie „Freiheit“ besteht ein Konsens. Weil verschiedene Strömungen unterschiedliche Vorstellungen davon haben. Und weil viele Menschen, die über Freiheit reden, dabei nur ihre eigene im Sinn haben, nicht aber die der Anderen.
Und, ja! Das ist anstrengend! Weil Diskurs nun mal immer anstrengend ist. Und weil man ihn nicht mit ein paar Worten auf Plakaten lösen kann. Demokratie ist anstrengend. Weil sie immer fordert, dass man sich austauscht, streitet, Standpunkte verteidigt, von ihnen abrückt, verhandelt, abwägt und sich am Ende mit Lösungen arrangiert, die zwar einen mehrheitlichen Konsens finden, aber eben niemals alle Befindlichkeiten unter einen Hut bringen.
Kein bisschen perfekt.
Ich bin der Auffassung, dass die Europäische Union es verdient, in ihrer Struktur und ihrem politischen Handeln sehr kritisch betrachtet zu werden. Kaum etwas an ihr ist perfekt. Vieles ist widersprüchlich. Ihre Ausrichtung ist in den aller meisten Fällen wirtschaftlich geprägt und viel zu selten sozial.

Aber denn noch ist sie in ihrem innersten Kern demokratisch. Sie wird von Politiker*innen geführt, die alle auf die eine oder andere Weise demokratisch legitimiert wurden. Und bei aller Kritik und der Vielzahl an Problemen, hat sie eine wichtige Stärke: ihre Diversität. Nirgendwo anders einigen sich so viele unterschiedliche Staaten so häufig auf einheitliche Lösungen. Nirgendwo anders unterstützen sich so viele unterschiedliche Staaten – wenn auch oft nur wiederwillig – so häufig wie innerhalb der Europäischen Union.
Und nein, sie ist nicht das perfekte, für Freiheit und Frieden einstehende Bündnis, zur allgemeinen Weltrettung. Aber als ein Anfang, als Fundament für genau so eine Utopie taugt sie sehr wohl.
Nicht jedem gefällt das!
Aus diesem Grund ist es nicht nur wichtig wählen zu gehen. Aus diesem Grund ist es auch wichtig Parteien zu wählen, die mindestens für den Erhalt, besser noch eine intensive, soziale Fortentwicklung der EU einstehen. Es gibt viele Kräfte, die genau das verhindern möchten. Kräfte, die sich nichts mehr wünschen, als die Rückkehr zu kleingeistiger Nationalstaatlichkeit. Sie schreiben vielleicht Freiheit auf Ihre Plakate, meinen aber etwas vollkommen Anderes.
Seid offen. Seid progressiv. Schaut auf den Fortschritt und lass euch nicht immer nur von all dem blenden, was NOCH nicht gut ist. Seht die Chancen. Zusammen für etwas einzustehen, ist immer wirkungsvoller als es alleine zu tun. An Defiziten kann man arbeiten.
Und dann kann man träumen. Vielleicht sogar von einer Welt „…in der für immer Frühling ist!“
Foto by wal_172619 from Pixabay